
Markus Raetz
Strangers & Lovers
Opening Thursday, May 8, 6–9 pm
May 9 – July 5, 2025
Pressetext
Taxierend steht er da, die Hände in den Taschen des doppelreihigen, gegürteten langen Mantels, den Kragen hochgestellt. Ein Typ, dem man in natura nicht an jeder Ecke begegnen möchte. Der enigmatische «Schwarze Mann»[1] (1976/1977) von Markus Raetz (1941–2020) jedoch fasziniert und zieht an: Er ist nur 33 cm hoch, aus Kalkstein, bearbeitet. In seiner beeindruckenden Detailtiefe lässt er an die viel kleineren japanischen Netsuke denken. Ab 1971 greift Raetz während 25 Jahren wiederholt auf gefundene Steine zurück und schafft aus ihnen Kleinskulpturen, die sich durch ein breites motivisches Spektrum auszeichnen. Viele von ihnen entstehen auf Reisen des Künstlers (u. a. Marokko, Ägypten, Italien, Spanien) oder während seinen Aufenthalten im In- und Ausland (Amsterdam, Carona, Ramatuelle).
Die auffällig grosse Sonnenbrille des «Schwarzen Mannes» rahmt sein Sichtfeld ein und steckt das für Raetz wichtigste Sinnesorgan, den Sehsinn ab: Der Blick des Publikums findet darin gleichsam eines der zentralsten Themen gespiegelt. Das Sehen, präziser noch die Darstellung des visuellen Wahrnehmens, ist grundlegend für den Zeichner, Plastiker und Maler, den die Literatur wiederholt als «Erforscher des Sehens» bezeichnet hat. Raetz’ Satz von 1974 «Oft Gesehenes neu sehen durch Drehung des Kopfes»[2] ist Programm. In seiner künstlerischen Praxis verband er philosophische und bildkünstlerische Überlegungen. Markus Raetz, der ab 1976 zeitlebens in Bern lebte und arbeitete (mit jährlichen Aufenthalten im Frühling und Herbst in Ramatuelle), hat die Schweizer Kunst nachhaltig geprägt. Als «Klassiker der Nachkriegsmoderne»[3], wie er zuletzt bezeichnet wurde, gehört er ab den 1960er Jahren mit seinem ebenso heiteren wie ernsthaften Oeuvre zu den bedeutendsten Vertretern der Schweizer Gegenwartskunst mit internationaler Ausstrahlung. Der Autodidakt Raetz hat ein Werk von grosser Eigenständigkeit geschaffen. Zu Beginn Anregungen der konkreten Kunst, der Op Art und Pop Art aufnehmend, wandte er sich, auch im anregenden Umfeld der damaligen Berner Kunstszene, konzeptuellen Ansätzen zu, bevor er ein ab den späten 1970er Jahren unverwechselbares plastisches Werk entwickelte, in dem er seine sensiblen Beobachtungen, sein grosses Wissen und seinen Humor zusammenführte. Parallel dazu zeichnete er unablässig, in Amsterdam (1969-1973) begann er zudem, sich der Druckgrafik zu widmen.
Die aktuelle, Markus Raetz unter dem Titel «Strangers & Lovers» gewidmete Ausstellung der Galerie Francesca Pia versammelt Werke, von denen einige eine lange Ausstellungsgeschichte aufweisen, während andere erstmals aus dem Nachlass der Öffentlichkeit präsentiert werden, neben geometrischen Formen dominiert Figuratives, der zeitliche Rahmen ist mit Werken von 1966 bis 2008 weit gespannt und würdigt damit einen Künstler, der ein Leben lang unermüdlich gearbeitet hat. «Fremd» wirkt keines der Werke, und zugleich bleibt es unmöglich, eine lineare Entwicklungsgeschichte der Arbeiten zu beschreiben. Raetz’ Werk entwickelte sich spiralförmig, als «Prozess permanenter produktiver Rückgriffe»[4].
Ganz im Sinne des Künstlers, der Zeichnung und plastisches Schaffen nicht als getrennte Gattungen, sondern als verschiedene Ausdrucksformen eines Denkprozesses betrachtete, sind Mobiles, Kleinskulpturen, Plastiken, Reliefs, Druckgrafik und Zeichnungen gemeinsam ausgestellt. Letztere haben im Werk von Raetz eine grundlegende Bedeutung und bilden häufig die «Keimzelle» für plastische Arbeiten: «In jedem Fall ist Zeichnen fast immer der erste Schritt – auch bei den Skulpturen. Was zu ihnen führt, führt über die Zeichnung», sagte Raetz im Gespräch anlässlich der Verleihung des Prix Meret Oppenheim 2006.[5] Nachzuvollziehen ist das etwa an den sachlich betitelten «Paare» (1980) aus Gips, die Raetz mit dem Spritzsack «gezeichnet» hat. Die sich annähernden oder liebenden Figuren in den Aquarellen – zwei mit dem Pinsel gezogene Linien genügen, um sie lesbar zu machen – finden in den feinen Gipsreliefs eine Entsprechung in materieller Substanz. Mit der sich in den Raum ausdehnenden linearen Plastik erweitert Raetz den Zeichnungsbegriff, was nicht nur beim «Golf von Neapel» (1980) beobachtet werden kann, den der Künstler aus zwei isolierten Kupferdrähten gleichsam zeichnet, sondern auch bei dem knapp dreissig Jahre später entstandenen «Drei Quader» (2008). Die fest montierten Drahtplastik gehört zum Typus der Parallelepipede (nonchalant eben: Quader), die im späteren plastischen Schaffen von Raetz leitmotivisch auftreten. Wie es typisch ist für das Werk von Raetz, zeigt sich das plastische Wesen der linearen Drahtreliefs erst durch die pendelartige Bewegung des Publikums.
Die Bewegung vor dem Werk oder der Gang um das Werk ist für viele von Raetz’ Arbeiten wesentlich, nicht nur bei Raumplastiken wie die den Mickey-Mouse-Kopf aufnehmende Aluminiumplastik «Form in Space» (1991/2017), sondern auch für viele Wandarbeiten. Explizit wird dies auch in der aus acht Zeichnungen bestehenden installativen Arbeit mit dem Titel «Bewogen beweging» (1983); den Titel entlehnte Raetz der grossen Übersichtsausstellung zur kinetischen Kunst im Stedelijk Museum in Amsterdam 1961. Gemäss Raetz kann die Arbeit in zwei unterschiedlichen Varianten gezeigt werden– in gleicher Höhe den vier Wänden eines Raums entlang oder in ebenfalls regelmässigen Abständen an die Wand eines runden Treppenhauses. Durch die Bewegung des Betrachters scheint sich der gezeichnete Kopf ebenfalls in Bewegung zu setzen und dreht sich um die eigene Achse.
Das Motiv des Kopfes, ob gezeichnet oder als plastische Form, zieht sich programmatisch durch das Schaffen von Raetz und wird etwa in «Nach P. d. F» (2002), einem idealisierten männlichen Kopf, zelebriert. Als Grundlage für die sechzehn Blechsilhouetten stützte sich Raetz auf Zeichnungen des italienischen Malers und Kunsttheoretikers Piero della Francesca, die er für seine Abhandlung De prospectiva pingendi schuf. Der frühe «Steckkopf Esther» von 1966, der die Künstlerin Esther Altorfer (1936–1988) zeigt, die sich in den 1960er Jahren in der Berner Kunstszene bewegte und mit Raetz befreundet war (das Porträtfoto stammt von Balthasar Burkhard), funktioniert nach dem Prinzip der rechtwinkligen Verschränkung zweier Flächen. Beim Umkreisen lassen sich die vier eindeutigen Seiten – Profile, Gesicht und Hinterkopf –gedanklich mühelos zu einer Gesamtansicht verbinden; Bild und Plastik fügen sich zusammen.
Während Raetz auf die Binnenelemente des Gesichts – Mund, Nase, Augen, Augenbrauen – häufig verzichtet, haben sie in den beiden Mobiles («Ohne Titel», um 1996) ihren Auftritt und fast freies Spiel. Vor diesen kinetischen Plastiken ist das Publikum angehalten, still zu stehen und die zufällige und immer wieder neue Abfolge unterschiedlicher Gesichtsausdrücke und der damit verbundenen Emotionen zu beobachten, die in ihrer Wirkung an einen Animationsfilm erinnert. Gleiches gilt für das aus zehn Strängen bestehende Ensemble, das erstmals öffentlich gezeigt wird und dessen Elemente aus getriebenem und/oder gefalztem Aluminiumblech – Parallelepipede und konische Silhouetten, die wirken, als würden sie sich in die Raumtiefe erstrecken – eine gewisse Ähnlichkeit mit der ebenfalls als Primeur gezeigten «Wolke» (Mobile, «Ohne Titel») in Raetz’ erster posthumer Museumsausstellung im Kunstmuseum Bern (2023/24) aufweisen. Die scheibenartigen Elemente scheinen während ihrer Bewegung und durch den Lichteinfall die Dimension und die Proportion zu verändern und Volumen vorzutäuschen.
Das Wechselspiel der zweidimensionalen Fläche, die als dreidimensionaler Körper interpretiert wird, prägt auch die Wahrnehmung des «Paquet» (2008), das ebenfalls zu den Parallelepipeden gehört, jedoch nun statisch auf einem Sockel steht. In Form und Farbe, aber auch durch den Titel, erinnert «Paquet» an ein Zigarettenpäckchen «Gauloises bleues». Der bemalte Karton weist eine konkave und eine konvexe Seite auf, die den Eindruck eines Quaders vermitteln.
Genau 30 Jahre früher, 1978, entstanden die bekannten Wellkartonreliefs, in denen Raetz über die Verformung der dreidimensionalen Konstruktion eine zweidimensionale Bildwirkung erzeugt. Unter entsprechendem Lichteinfall werden Motive wie die Ikone Elvis Presley oder ein unbekannter Frauenakt, der an Raetz’ «Lisi» erinnert, lesbar. Der weibliche Akt, der weibliche Torso, ist ein häufig vorkommendes Motiv bei Raetz, ebenso das Pin-Up, das im plastischen und zeichnerischen Werk vor allem in den 1970er Jahren auftritt, auch, um Fragen der Bildentstehung zu reflektieren. Das Pin-Up als typisches Motiv der Pop Art wird von Raetz aus philosophischem und erkenntnistheoretischem Interesse an der Konstruktion des Sehens eingesetzt. In Technik und Ästhetik belegen die «Tori» (1968) Raetz’ Auseinandersetzung mit der Pop Art. Die Siebdruck-Edition erschien in drei Farbvarianten, sowie in schwarz/weiss. Als Vorlage diente Raetz eine Fotografie von Balthasar Burkhard, die seinen 1977 zerstörten gedrechselten und bemalten Torus zeigt. Mit den drei aneinandergereihten Tori spielt Raetz erneut mit dem Verhältnis von Fläche und Volumen, Zweidimensionalität und räumlicher Illusion und vertieft damit ein zentrales Thema der Pop Art konzeptuell.
Der Fokus der Ausstellung auf Werke der 1980er Jahre, insbesondere bei den Arbeiten auf Papier, wird durch eine weitere Serie («Ohne Titel», 1980) unterstrichen, die schemenhaft und prozesshaft einen Zeichner – den Künstler? – bei der Arbeit zeigt. Mehr noch: Dargestellt ist ein regelrecht visualisierter Denkprozess, der stilistisch an einen Comic erinnert. 2014 äusserte Raetz, dass ihm am Cartoon vor allem «die Reduktion aufs Wesentliche [gefällt], die Tatsache, dass man mit wenigen Strichen etwas erzählen kann.»[6] Das darf auch von der Ausstellung behauptet werden, die mit den ausgewählten Arbeiten eine Geschichte über «Strangers & Lovers» erzählt, über «Dieses und Jenes», Illusion und Wirklichkeit, über Fläche und Raum, das Suchen und Finden, vor allem aber über das Dazwischen und das Uneindeutige, das ein aktives Beobachten erfordert, wie es der ikonische «Feldstechermann» (1988) verkörpert.
– Patricia Bieder
[1] Siehe für die plastischen Arbeiten auch den 2023 vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA) herausgegebenen Werkkatalog, auf den sich die Ausführungen in diesem Text u. a. stützen: Franz Müller, Markus Raetz. Das plastische Werk. Catalogue raisonné, mit Beiträgen von Katharina Ammann, Andrea Arnold und Patricia Bieder, 2 Bände, Zürich: Schweizerisches Institut für Kunst-wissenschaft (SIK-ISEA) / Scheidegger & Spiess, 2023. Für die druckgrafischen Arbeiten: Markus Raetz. Die Druckgraphik. Les estampes. The prints. Catalogue raisonné 1951–2013, 2 Bände, hrsg. von Michael Mason in Zusammenarbeit mit Claudine Metzger, Zürich: Scheidegger & Spiess, 2014.
[2] Markus Raetz in: «Aufzeichnungen», Ausstellungskatalog Das Beobachten des Beobachtens, mit Beiträgen von Jürgen Glaesemer, Kunstmuseum Bern, 1977, S. 35.
[3] Franz Müller, Markus Raetz: Zeemansblik, hrsg. von Angelika Affentranger-Kirchrath (Schlüsselwerke der Schweizer Kunst), Zürich: Scheidegger & Spiess, 2025, S. 9.
[4] Ebd., S. 27.
[5] Hans-Joachim Müller, «Markus Raetz [Interview], in: Prix Meret Oppenheim 2006. Gamboni, Raetz, Schelbert, Suermondt, Winnewisser, Zumthor, Bern, Bundesamt für Kultur, 2007, S. 25–37.
[6] Helen Lagger, «Ich sehe auch in Holzmaserungen Gestalten», in: Berner Zeitung, 10.2.2014, S. 10–11.
Parallel zur Ausstellung zeigt das Kino ARTHOUSE PICCADILLY in Zürich in unregelmässigen Abständen bis auf weiteres den Film zu Markus Raetz. Vorstellungsdaten unter arthouse.ch
MARKUS RAETZ – Ein Film von Iwan Schumacher, Schweiz, 2007, 75 Minuten, Farbe, Dialekt